Offener Brief: Das Land braucht einen NSU-Untersuchungsausschuss!

23. April 2014

OffenerBriefanKreschmannNSUFreiburger Bündnis Gegen Rassismus und Diskriminierung
c/o DGB Stadtverband Freiburg

Hebelstr. 10

79104 Freiburg

Herrn
Ministerpräsident W. Kretschmann
Staatsministerium Baden-Württemberg
Richard-Wagner-Str. 15
Freiburg, 18.4.2014
70184 Stuttgart

Offener Brief
Das Land braucht einen NSU-Untersuchungsausschuss!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann!

Wir begrüßen ausdrücklich die geplante Einrichtung der Enquetekommission „NSU-Verbrechen – Rechtsextremismus in Baden-Württemberg“ im Stuttgarter Landtag und bedanken uns für Ihre Antwort vom 31. März auf unseren Offenen Brief vom 15. Februar 2014. Dennoch halten wir an unserer Forderung nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss fest, da es unserer Meinung nach immer noch zu viele ungeklärte Zusammenhänge und „Ermittlungspannen“ gibt, deren lückenlose Aufklärung nicht durch eine Enquetekommission erfolgen kann.

Im Spiegel vom 14.04.14 wird über den Tod eines ehemaligen Mitarbeiters des Verfassungsschutzes berichtet, der als Zeuge zu einem der NSU-Morde vernommen wurde. Er ist nach dem mysteriösen „Suizid“ in Stuttgart der zweite tote Zeuge in diesem Zusammenhang. Der Mann mit dem Namen Thomas Richter (Deckname „Corelli“) hatte laut Spiegel in den 90er Jahren in verschiedenen rechtsextremen Organisationen maßgeblich mitgewirkt, hatte mit dem V- Mann Achim S. aus Baden-Württemberg als Gründungsmitglied des deutschen Ku Klux Klan in engem Kontakt gestanden und nachgewiesene Verbindungen zum NSU. Er kannte laut „Haller Tagblatt“ vom 17.04.14 sowohl die mutmaßlichen Mörder der Polizistin Michèle Kiesewetter als auch deren Gruppenführer Timo H., der Mitglied des Ku Klux Klan war. Muss man da nicht an weitere Verbindung nach Baden-Württemberg denken?

Bis jetzt wurde die Rolle der baden-württembergischen Ku Klux Klan-Polizisten bei dem Mord der Polizistin Michèle Kiesewetter nicht zweifelsfrei geklärt. In der Berliner Zeitung vom 31.03.14 wurde über einen Bericht der Ermittlungsgruppe (EG) „Trio“ des Bundeskriminalamtes (BKA) informiert, der im Auftrag der Bundesanwaltschaft erstellt wurde. Danach hätte der Leiter der EG „Trio“ betont, dass die Motivlage für den Fall des Heilbronner  Polizistenmordes nach wie vor eine der noch offenen zentralen Fragen sei.

Auch die Frage nach möglichen Mittätern oder Mitwissern sei noch nicht abschließend geklärt.

Zum Tod des Florian H., der am 16.09.13 in der Nähe von Stuttgart in seinem Auto verbrannte, hätte die Bundesanwaltschaft und die EG „Trio“ gern eigene Ermittlungen angestellt, so die Berliner Zeitung, um zu prüfen, ob Florian H. einem Racheakt aus der Szene zum Opfer gefallen sein könnte. Allerdings sei die Akte geschlossen worden, nachdem das LKA Baden- Württemberg den Feuertod zum Suizid erklärt hatte.

Wir nehmen diese Nachrichten zum Anlass, nochmals nachdrückl ich die Einrichtung eines NSU-Untersuchungsausschusses durch den baden-württembergischen Landtag zu fordern. Die Einrichtung eines solchen Ausschusses hat auch die Mehrzahl der Anwesenden bei einer Podiumsdiskussion („Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter: Brauchen wir in Baden-Württemberg einen NSU- Untersuchungsausschuss?“) am 04.04.14 durch die Unterzeichnung einer entsprechenden Resolution unterstrichen. Zu der Veranstaltung mit zwei Journalisten, einem im Ausland geborenen Mitbürger, einem Vertreter der Nebenkläger beim NSU Prozess in München und einem Vertreter des Vereins „Kritische Polizisten“ hatte unser Bündnis und die Studierendenvertretung der Uni Freiburg eingeladen. Bei dieser Veranstaltung wurde eine Vielzahl von Fakten genannt, die Zweifel an der optimistischen Darstellung der bisherigen Aufklärung im Bericht der Ermittlungsgruppe Umfeld des LKA Baden Württemberg aufkommen lassen. Gerne sind wir bereit, die erwähnten Fakten zu detaillieren.

Eine rückhaltlose Aufklärung der Geschehnisse ist aus unserer Sicht unabdingbare Voraussetzung für die notwendige Erarbeitung von Schlussfolgerungen aus den Vorkommnissen durch eine Enquetekommission.

Wir möchten die Gelegenheit nutzen, auf den starken Vertrauenseinbruch in die Ernsthaftigkeit der Aufklärung neonazistischer Verbrechen hinzuweisen, wie er auch bei der Diskussion hier in Freiburg zum Ausdruck kam. Insbesondere gilt das für unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir wissen, dass durch die Mordserie, das Bekanntwerden eklatanter „Ermittlungspannen“ und die Verstrickungen staatlicher Institutionen mit den Geschehnissen existenzielle Ängste bei ihnen ausgelöst wurden und immer noch werden. Es ist bezeichnend, dass nur wenige dies öffentlich zu sagen wagen.

Viele wohldurchdachte Initiativen zum Leben miteinander und zur Integration – wie sie auch die Landesregierung vornimmt – müssen ins Leere laufen, wenn Vertrauen und Zuversicht von Angst verdrängt werden. Und nicht zuletzt – wie will die Bundesrepublik Deutschland den erschreckenden rechtsextremen Entwicklungen in Europa ernsthaft entgegentreten, wenn die Probleme im eigenen Land nicht mit allen rechtsstaatlichen Mitteln schonungslos aufgeklärt und angegangen werden?

Mit freundlichen Grüßen,

(Metin Erd)
(Dr.Bernd Wagner)

(für das Freiburger Bündnis gegen Rassismus und Diskriminierung)

FrBgRaDi@web.de
www.freiburger-buendnis-gegen-rassismus.de

Offener Brief im Original (PDF)