Polizistinnenmord von Heilbronn: Prominente fordern Untersuchungsausschuss zu NSU und Umfeld
31. Januar 2014
Die sofortige Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zur Klärung der Ermittlungspannen und Ungereimtheiten bei der Aufklärung des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, fordern fünfzig Persönlichkeiten des politischen Lebens in Baden-Württemberg. Als ErstunterzeichnerInnen rufen sie zu einer Unterschriftensammlung auf, die dieser Forderung Nachdruck verleihen soll.
Die Unterzeichner betrachten die Aufklärung des Mordanschlages vom 25. April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese als eine Schlüsselfrage für den gesamten Komplex des neofaschistischen Terrortrios „NSU“ und des Rechtsterrorismus überhaupt. Zu deutlich weiche dieses Verbrechen von dem Tatmuster der sonstigen „NSU“ Morde ab. Auffällig sei auch, dass die gesamte Tatserie nach der Heilbronner Bluttat abgerissen sei.
Im Mittelpunkt der Fragen, die von einem Untersuchungsausschuss beantwortet werden sollen, steht die Frage, warum die Ermittlungsbehörden nie mit Nachdruck den Phantombildern nachgegangen sind, die unmittelbar nach der Tat von Zeugen des Hergangs angefertigt wurden. Diese Bilder weisen auf mehr als zwei Täter hin und keines von ihnen gleicht den als Schuldigen ermittelten Naziterroristen Mundlos und Böhnhardt.
Auch die Frage nach der Verwicklung von Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden in den Rechtsterrorismus bedarf nach Ansicht der Unterzeichner dringend der Aufklärung. „Warum hielten sich am Mordtag mindestens fünf Geheimdienstmitarbeiter in der Nähe des Tatortes auf?“, wird im Text zur Unterschriftensammlung gefragt.
Ein besonders diffuses Licht auf diesen Fall, werfe auch der Tod eines Neonaziaussteigers, der im September 2013 verbrannt in seinem Fahrzeug auf dem Cannstatter Wasen aufgefunden wurde. Nach der Darstellung der Ermittlungsbehörden handelte es sich um einen Selbstmord, obwohl eine Reihe von Indizien dagegen sprechen. Er war an diesem Tag nach Stuttgart gefahren, um beim Landeskriminalamt Aussagen zum Heilbronner Mordfall zu machen. Zuvor schon hatte er von einer weiteren Naziterrorgruppe berichtet, die für den Heilbronner Mordfall verantwortlich sei.
Die Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, die Wahrheit über diese Ungereimtheiten zu erfahren, erklären die Unterzeichner. Dazu sei ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, wie ihn bereits andere Bundesländer eingerichtet haben, unerlässlich.
Im Text wird darauf hingewiesen, dass auch viele politische Organisationen bereits einen solchen Ausschuss bisher gefordert haben: Der DGB Nord-Württemberg, die Partei Die Linke, die Jungsozialisten und viele andere gehören dazu.
Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen hat nun schließlich die traditionsreiche von Naziopfern gegründete Organisation Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschisten, diese gemeinsame Kampagne angeregt.
Zu den Unterzeichnern zählen zahlreiche Gewerkschaftsfunktionäre, VertreterInnen von politisch engagierten Verbänden, Mandatsträger und Mitglieder der Parteien Die Linke und der Regierungsparteien Die Grünen und der SPD, Journalisten, Historiker und Juristen.
„Wir hoffen sehr, dass diese Kampagne dazu beiträgt, nun endlich die Blockade aufzuheben, die es derzeit im Landtag gegen einen solchen unabdingbar notwendigen Untersuchungsausschuss gibt“, fasst Janka Kluge, Landessprecherin der VVN-BdA das Anliegen dieser Aktion zusammen.
„NSU“ und Rechtsterrorismus in Baden-Württemberg: Aufklärung tut not – für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Landtag
Zwei Jahre nach der Entdeckung der Existenz einer organisierten Naziterrorgruppe namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ treten immer neue Merkwürdigkeiten, Unklarheiten und Ungereimtheiten zutage. Durch Ermittlungen der Polizei und den Münchner Prozess, aber auch durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse des Bundestages und der Landtage in Thüringen, Sachsen und Bayern wird immer mehr über die Verbrechen der „NSU“ bekannt. Ein mehr als merkwürdiges Licht fällt auch auf die Verstrickung der Behörden und ihrer „V-Leute“ in diesen Sumpf.
Obwohl zahlreiche Spuren nach Baden-Württemberg weisen, obwohl gerade auch in Baden-Württemberg Ermittlungspannen bekannt wurden und die Rolle der Geheimdienste unklar ist, gibt es in diesem Bundesland – anders als in Sachsen, Thüringen und Bayern – bisher keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der diesen Fragen nachgeht.
Der beim Landeskriminalamt eingerichtete Ermittlungsausschuss „Umfeld“, der seine Untersuchungsergebnisse nicht der Öffentlichkeit vorstellen muss, ist alleine nicht geeignet, um die notwendige Klarheit und Transparenz herzustellen.Nur einige Beispiele für aufklärungsbedürftige Sachverhalte seien genannt:
In der ausgebrannten „NSU“-Wohnung in Zwickau wurden Stadtpläne und andere Dokumente gefunden, die Hinweise auf ausgespähte Anschlagsziele und Fluchtrouten in Baden-Württemberg enthielten.
Die größten Rätsel gibt der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 auf der Heilbronner Theresienwiese auf.
Trotz des hohen Nachdrucks, mit dem Morde an Polizeiangehörigen sonst aufgeklärt werden, tappten die Behörden von einer Ermittlungspanne in die nächste und immer im Dunkeln. Erst als beim Auffliegen des Terrortrios am 4. November 2011 in Eisenach im ausgebrannten Wohnmobil die Waffen der ermordeten Polizistin und ihres Kollegen sowie deren Handschellen gefunden wurden, ging die Polizei von einem rechtsterroristischen Hintergrund aus und ordnete die Taten dem „NSU“ zu.Warum spielte bei den Ermittlungen nie der Hinweis eine Rolle, den eine „V-Frau“ dem baden-württembergischen Landesamt für Verfassungsschutz schon kurz nach der Tat gegeben hatte, wonach Neonazis aus Schwäbisch Hall in die Ereignisse verwickelt waren?
Warum wurde niemals nachdrücklich vier Phantombildern der Täter nachgegangen, die kurz nach dem Heilbronner Mord von Zeugen erstellt wurden? Keines ähnelt den Mitgliedern des Terrortrios, eines aber verblüffend einem polizeibekannten Nazifunktionär, ehemaligen Söldner, einschlägig Vorbestraften und mutmaßlichen „V-Mann“ aus der Region?
Warum hielten sich am Tag des Heilbronner Mordes mindestens fünf Mitarbeiter von Geheimdiensten auf oder in der Nähe der Theresienwiese auf?
Welche Verbindungen bestehen zum baden-württembergischen „Ku-Klux-Klan“, dessen Gründer und Leiter, wie jetzt vom Innenministerium bestätigt wurde, ein „V-Mann“ des baden-württembergischen Verfassungsschutzes war? Der Gruppenführer der ermordeten Polizistin war zusammen mit mindestens einem weiteren Polizisten ebenfalls Mitglied dieser rassistischen Gruppe.
Was hat es mit dem Todesfall am 16.9. 2013 auf dem Cannstatter Wasen auf sich? Dort wurde ein junger Neonazi angeschnallt und verbrannt in seinem Auto gefunden. Er war an diesem Tag nach Stuttgart gefahren, um beim Landeskriminalamt zum Mordfall in Heilbronn auszusagen. Zuvor schon hatte er Hinweise auf eine ihm bekannte weitere Naziterrorgruppe namens „Neoschutzstaffel – NSS“. gegeben, die in Baden-Württemberg aktiv sei.
Warum weicht der Heilbronner Polizistenmord vom sonstigen Tatschema des „NSU“ so offensichtlich ab? Warum wurde die Mordserie an Gewerbetreibenden mit Migrationshintergrund (mit immer derselben Waffe!) nach der Heilbronner Tat abgebrochen?
Sowohl die Öffentlichkeit als auch die verantwortlichen Politiker/innen und natürlich auch die Justiz haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren und zu ermitteln.
Der DGB Nordwürttemberg, die Jungsozialisten, die Linke, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten e.V. und andere haben bereits die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gefordert.
Bitte unterstützen auch Sie diese Forderung und verleihen ihr mit Ihrer Unterschrift Nachdruck
ErstunterzeichnerInnen: Stand: 30.1.2014
Jochen Alber, Landesgeschäftsführer NaturFreunde Württemberg ● Renate Angstmann-Koch, Redakteurin, Tübingen ● Karin Binder, MdB Die Linke, Karlsruhe ● Luisa Boos, SPD-Ortsvereinsvorsitzende Sexau ● Elwis Capece, Geschäftsführer der NGG, Karlsruhe ● Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Dusslingen ● Stefan Dreher, Tübingen ● Folker Förtsch Historiker KZ-Gedenkstätte Hessental Schwäbisch Hall ● Jochen Dürr, Landessprecher der VVN-Bund der Antifaschisten Ba-Wü, Schwäbisch Hall ● Sonja Elser, stellv. AsF Landesvorsitzende, Lorch ● Marcel Emmerich, Landessprecher GRÜNE JUGEND Baden-Württemberg ● H.T. Ersoy, 1. Vorsitzender Türkischer Verein Tübingen ● Prof. Dr. Hajo Funke (FU Berlin) ● Arne Gailing, Gewerkschaftssekretär, Ver.di Bezirk Heilbronn – Neckar – Franken ● Jürgen Grässlin, Träger des Aachener Friedenspreises, Freiburg ● Martin Gross, Geschäftsführer Ver.di Bezirk Fils-Neckar-Alb ● Annette Groth, MdB Die Linke ● Cuno Hägele, Gewerkschaftssekretär, Stuttgart ● Heike Hänsel, MdB Die Linke, Tübingen ● Roland Hamm, 1. Bevollmächtigter der IG Metall Aalen – Schwäbisch Gmünd ● Harald Hellstern, Internationale katholische Friedensbewegung Pax Christi Stuttgart ● Siggi Hubele, DGB Kreisvorsitzender Schwäbisch Hall ● Heinz Hummler, VVN-BdA, Stuttgart ● Jürgen Jonas, Autor und Journalist, Stammtisch Unser Huhn Tübingen ● Wolfram Kaier, Schwäbisch Hall ● Katharina Kaupp, Jugendsekretärin, Ver.di Bezirk Heilbronn – Neckar – Franken ● Ilse Kestin, IG Metall Gewerkschaftssekretärin, Stuttgart ● Janka Kluge, Landessprecherin der VVN-Bund der Antifaschisten Ba-Wü, Stuttgart ● Katharina König MdL Obfrau DIE LINKE im NSU Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags ● Chris Kühn MdB, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Tübingen ● Andreas Linsmeier, Landesvorsitzender NaturFreunde Württemberg e.V. ● Bernhard Löffler, Regionsvorsitzender DGB-Region Nordwürttemberg, Stuttgart ● Jessica Messinger, Mitglied im Landesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg ● Thomas Müssig, Gewerkschaftssekretär Ver.di Bezirk HN – Neckar – Franken, Heilbronn ● Eva Muszar, Landessprecherin GRÜNE JUGEND Baden-Württemberg ● Silke Ortwein, DGB Kreisvorsitzende Heilbronn ● Konrad Ott, IG Metall Gewerkschaftssekretär, Ludwigsburg ● Tobias Pflüger, Tübingen ● Richard Pitterle, MdB Die Linke, Sindelfingen ● Lilo Rademacher, IG Metall Gewerkschaftssekretärin, Friedrichshafen ● Bodo Ramelow, Fraktionsvorsitzender der Fraktion Die Linke im Thüringer Landtag ● Martina Renner MdB (NSU Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag ● Heidi Scharf, 1. Bevollmächtigte IG Metall, Schwäbisch Hall ● Andrea Schiele stellvertretende ASF Landesvorsitzende, Ulm ● Michael Schlecht, MdB Die Linke, Mannheim ● Gerhard Schneider,Vorstandsmitglied des ver.di-Ortsvereins Ellwangen ● Gerlinde Strasdeit, Stadträtin der Linken und Personalrätin am Uniklinikum Tübingen ● Bernhard Strasdeit, Landesgeschäftsführer DIE LINKE Ba.-Wü. ● Jörg Tietze, Vorsitzender des Stadtjugendrings Stuttgart ● Prof. Dr. Karl Weingärtner, Reutlingen, MdL a.D. ● Wolf Wetzel, Autor des Buches Der NSU-VS-Komplex
Die Petition kann hier unterzeichnet werden, die Unterschriftenliste kann hier heruntergeladen werden. Die Kampagnenseite informiert fortlaufend über den Stand.