Tübingen: „Dollarzeichen in den Augen von „Ronald McDonald“ haben im ehemaligen Güterbahnhof genauso wenig zu suchen wie an jedem anderen Gedenkort der Nazi- Verfolgung“
29. September 2015
Antifaschismus, Gedenken, Tübingen, VVN-BdA
Pressemitteilung der VVN-BdA Tübingen:
Ein reichlich gestörtes Verhältnis hat die Stadt Tübingen zu dem in ihren Besitz gelangten historischen Kulturdenkmal Güterbahnhof, meint die VVN-BdA. Wie das „Schwäbische Tagblatt“ am 24.09.2015 berichtete, sollen laut einer neuen Vorlage der Stadtverwaltung über die künftige Nutzung des Gebäuderests nun auch die letzten Bezüge zur Geschichte des Gebäudes entsorgt werden.
Zur Erinnerung:
• Bis zum 16. April dieses Jahres besaß Tübingen mit dem Güterbahnhof-Ensemble ein intakt gebliebenes authentisches Denkmal der Naziverfolgung. Aus „wissenschaftlichen (wirtschafts- und architekturhistorischen sowie bautypologischen) und heimatgeschichtlichen Gründen“ hatte der gesamte Güterbahnhof einschließlich des damals noch erhaltenen Bahnsteigs den Status eines geschützten Kulturdenkmals. An seiner Erhaltung bestand laut Verfügung des Regierungspräsidiums Tübingen vom 22.10.2010 (von der Stadt Tübingen nie veröffentlicht, nur von uns!) wegen seines exemplarischen und dokumentarischen Wertes ein öffentliches Interesse.
• Das bezog sich nicht nur auf die Rolle für die Industriegeschichte. Während des Zweiten Weltkriegs waren „russische Kriegsgefangene regelmäßig zum Be- und Entladen vom Güterzügen eingesetzt.“ In einem entsprechenden damaligen Merkblatt hieß es, ihre Bewachung verlange „angesichts der Heimtücke und politischen Einstellung … eine besondere Sorgfalt und Strenge“. Ihre Arbeitsgruppen müssten „ständig unter der Aufsicht von mindestens 2 Wachmännern stehen“ die ihre Aufstellung so zu wählen hätten, „dass sie die Gefangenen, wenn möglich aus überhöhtem Standpunkt, stets im Auge haben. Beim geringsten Versuch tätlichen Widerstandes ist von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.“
• Das gesamte Ensemble war bis vor einem halben Jahr noch vollständig erhalten. Am 16. April wurde der Teilabriss von der Tübinger Stadtverwaltung (als unterer Denkmalbehörde) genehmigt. Das sonst geltende „Stillhalteabkommen“ mit dem Landtag, wenn zu dem Vorgang eine Petition vorliegt (und von uns liegt eine vor, bis heute nicht bearbeitet) wurde extra außer Kraft gesetzt. Wir sagten damals: „Die politische Instinktlosigkeit besteht darin, kurz vor dem »Weltdenkmaltag« 18. April, kurz vor dem 70. Jahrestag der Befreiung Tübingens am 19. April eine solche »Entdenkmalisierung« durchzuführen. Passender wäre gewesen, das intakte Denkmal Güterbahnhof in das Gedenken zum 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands einzubeziehen. Genau das war wohl nicht gewollt.“
• Am 26. April bestand letztmals Gelegenheit, das Ensemble in alter Form zu besichtigen. Zwei Tage später erklärten wir zu dem Zerstörungswerk, das angelaufen war, „um für den künftigen »Begütertenbahnhof« vollendete Tatsachen zu schaffen“: „Nachdem der Bund das staatseigene Gelände »Investoren« übereignet hatte, die es mitsamt dem Denkmal verkommen ließen, kuschen nun Land und Stadt, statt das ausgewiesene Denkmal zu schützen, vor den »Rendite«-Erwartungen dieser »Investoren«.“
An dieser Kritik halten wir fest. Aber nun darf es nicht noch schlimmer gemacht werden!
Wir haben immer kritisiert, dass für die weitere Nutzung des Hauptgebäudes „ keine Garantien, nur unverbindliche Absichtserklärungen mit vielen angekündigten Varianten“ gab. Unsere Forderung bleibt, dass das Denkmal „einer seiner Geschichte entsprechenden Nutzung zugeführt werden“ muss. „Das muss der Ausgangspunkt jeder weiteren Planung sein. Vielleicht lassen sich mit Neubauten und Gastronomie höhere Renditen erzielen als mit einem Denkmal und einer Lern- und Gedenkstätte. Das darf nach unserer Meinung nicht den Ausschlag geben.“
Das bekräftigen wir aus aktuellem Anlass auch heute. Nach allen Auseinandersetzungen um den Teilabriss werden jetzt die alten „Gastronomie“- und „Kinderbetreuungs“-Nutzungsszenarien
tatsächlich wieder hervorgeholt.
• Aber die Dollarzeichen in den Augen von „Ronald McDonald“ haben an diesem Ort genauso wenig zu suchen wie an jedem anderen Gedenkort der Nazi-Verfolgung.
• Weder eine Kita noch eine Gaststätte gehören in dieses Gebäude.
• Wir wenden uns auch gegen jegliche sonstige Umnutzung, Mitnutzung und Vermarktung, die mit dem historischen Charakter des Ortes nichts zu tun hat.
Es ist unwürdig, wenn die Behauptung einer in den Diensten der Deutschen Bahn stehenden Historikerin, die Nutzung des Beobachtungsstands zur Überwachung von Zwangsarbeitern sei „nicht erwiesen“, ohne weitere Prüfung als historische Wahrheit ausgegeben und als Rechtfertigung solcher Planungen herangezogen wird.
Es ist unwürdig, wenn Überlegungen des Vereins für ein Lern- und Dokumentationszentrum zum Nationalsozialismus und für eine Nutzung als Stadtarchiv gegeneinander ausgespielt werden.
• Ob die Güterhalle (am hochwassergefährdeten Standort, abseits von der Altstadt und den Verwaltungsdienststellen) als Aufbewahrungsort für ein endlich einheitliches Stadtarchiv wirklich geeignet und groß genug ist, sollten Fachleute unvoreingenommen und ohne vorweg feststehen müssendes Ergebnis beantworten.
• Dass das Tübinger Stadtarchiv seit Jahren unzureichend untergebracht ist, liegt wirklich nicht am LDNS und kann nicht zu seinen Lasten gehen.
• Wenn zusätzlich zu einer angemessenen Gedenkstätte unter Einbeziehung des Beobachtungsstands zusätzliche Lern- und Arbeitsräume im Untergeschoss geschaffen werden, wäre dann nicht für beides Platz genug?
• Freilich muss auch das Untergeschoss – und etwaige weitere Keller, wie in alten Gebäuden häufig anzutreffen – im Hinblick auf seine Nutzbarkeit und den möglichen Hochwasserschutz geprüft und ordentlich beschrieben werden.
• Alle weiteren Abbruch- und Abrissszenarien müssen vom Tisch.
• Der im April bewusst herbei geführte Verlust der Denkmalseigenschaft ist kein Freibrief für beliebige Ein- und Umbauten. Die wirklich erforderlichen Baumaßnahmen müssen denkmalskonform gestaltet werden. Insbesondere dürfen Einbauten nicht den authentischen Charakter des Beobachtungsstands in Frage stellen.
• Nur klare verbindliche Zusagen ermöglichen verbindliche Planungen des Trägervereins.
Die VVN-BdA ist eine 1947 von Überlebenden der Naziverfolgung gegründete überparteiliche und in Baden-Württemberg gemeinnützige antifaschistische Organisation.
Dokumentation unserer früheren Stellungnahmen zum Thema Güterbahnhof: tuebingen.vvn-bda.de