Wo bleibt der Aufschrei?

19. September 2014

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Hinter uns steht eine viel größere Bühne, auf der die Bundeskanzlerin heute Nachmittag zum Thema „Nie wieder Judenhass in Deutschland“ sprechen wird. Der Grund dafür sind antisemitische Äußerungen, die man in den vergangenen Wochen auf deutschen Straßen hören und lesen konnte und Anschläge auf jüdische Einrichtungen. Dass es deshalb einen Aufschrei gibt, ist richtig und wichtig.
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Allerdings frage ich mich, wo dieser Aufschrei blieb, als im vergangen Jahr in ganz Deutschland, in jedem Winkel, die Plakate hingen, von denen Petra Rosenberg vorhin gesprochen hat. (Sie sprach NPD-Plakate mit dem Slogan „Gas geben“.) Wo blieb die Intervention der Politik, als sämtliche Anzeigen wegen Volksverhetzung, die von den verschiedenen Vertretungen der Sinti und Roma flächendeckend erstattet worden sind, von deutschen Gerichten zurückgewiesen wurden, weil z. B. der Text „Mehr Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ auch ein „Meinungsbeitrag“ zur Verteilung knapper öffentlicher Mittel sein könnte?

Da gab es keinen Aufschrei und kein Wort von der Kanzlerin. Das ist ein Skandal!

Als das Mahnmal vor nun fast 2 Jahren eingeweiht wurde, dankte die Bundeskanzlerin Romani Rose für seinen 20 Jahre währenden Kampf um dieses Mahnmal. Das war schon eine besondere Qualität, die langjährige Verweigerung und den hinhaltenden Widerstand mehrerer Bundesregierungen schön zu reden.

In den ersten Jahren wurde darüber diskutiert, dass es keine verlässliche Zahl für die Opfer dieses Völkermords gäbe. Gewissermaßen wurden so die Überlebenden und Nachkommen dafür verantwortlich gemacht, dass der Holocaust an den Sinti und Roma bis heute nur mangelhaft erforscht wurde. Die letzten 5 Jahre wurde eine Debatte darum geführt, ob nicht doch der Begriff „Zigeuner“ auf den Tafeln des Mahnmals verwendet werden sollte.

Ich bin häufig bei Veranstaltungen und Gesprächsrunden mit Sinti und Roma anwesend und es bleibt nie aus, dass irgendein Bekloppter die Frage stellen muss, warum man denn nicht mehr „Zigeuner“ sagen darf. Wenn dann die Antwort lautet, dass Menschen, die dieses Wort nur als Schimpfwort kennen, es nicht mehr hören wollen, kann es passieren, dass jemand seine Sorge äußert, dass das Verschwinden dieses Wortes zur „Verarmung der deutschen Sprache“ führe, er selbst habe so viele romantische Kindheitserinnerungen, die damit verbunden seien.

In diesem Sinne stellt das Mahnmal auf keinen Fall einen Endpunkt dar, sondern muss als Bezugspunkt für die weitere Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen Antiziganismus begriffen werden.

An dem Tag, an dem das Denkmal eingeweiht wurde, hatte dort eine Gruppe junger Sinti und Roma Jutetaschen umgehängt, auf denen geschrieben stand: „67 Jahre zu spät“.

Das waren 67 Jahre, in denen die Überlebenden von Deportation und Völkermord erleben mussten, dass sie in der postfaschistischen Gesellschaft kein Mitleid zu erwarten hatten, keine Reue, keine Scham. Niemand hat sie je um Verzeihung gebeten.

An den Verhältnissen, die die Deportation möglich gemacht hatten, hatte sich nichts geändert:
– Die 1899 in München gegründete „Zigeunerzentrale“, die 1939 nach Berlin verlegt und dort dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) eingegliedert worden war, wurde 1946 nach der Zerschlagung der faschistischen Institution wieder als „Zigeunerstelle“ nach München zurück verlagert.
Bis 1970 wurden dort alle Sinti und Roma kriminaltechnisch erfasst.

– Bereits 1948 wurde in Baden-Württemberg wieder ein „Leitffaden zur Bekämpfung des Zigeuner-Unwesens“ erlassen.

– Noch 1956 urteilte der Bundesgerichtshof, die Verfolgung der sinti und Roma sei nicht rassistische begründet gewesen, sondern als „kriminalpräventive Maßnahme“ zu betrachten.

Erst 1982 – nach einem Hungerstreik junger Sinti und Roma in Dachau – erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt an, dass es einen Völkermord an den Sinti und Roma gegeben hatte.

Da waren viele der Überlebenden schon gestorben.

Wer heute in Entschädigungsakten von Sinti und Roma recherchiert und nicht völlig verroht ist, dem treten Tränen der Trauer und der Scham in die Augen. Was Gutachter, Ämter und Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland den Überlebenden entgegenhielten, macht fassungslos. Das geht weit über die Leugnung, Verdrängung und Rechtfertigung hinaus, die die Verfolgten des Naziregimes ja auch aus allen anderen Zusammenhängen kennen und ist der personellen Kontinuität der dort Tätigen geschuldet:
Wie der Leiter der „Rassehygienischen Forschungsstelle“, Robert Ritter, wurden viele ehemalige Mitarbeiter_innen des RSHA ebenso wie diejenigen der Münchner „Zigeunerstelle“ als “Experten“ für die „Wiedergutmachungs“-Anträge von Sinti und Roma tätig.

Der über Jahrhunderte entwickelte und tradierte Antiziganismus, der den Sinti und Roma an allen Ecken entgegenschlägt, ist heute nicht weniger grausam als in den 1920er oder 1950er Jahren. Statt ihm entgegenzutreten, statt Menschen, deren unvorstellbarem Leid hier ein Denkmal gesetzt wurde, Schutz zu gewähren, statt die Verantwortung wahrzunehmen, von der Frau Merkel bei seiner Einweihung sprach, schüren deutsche Politiker das Ressentiment des Stammtischs und – auch das muss gesagt werden: der Salons – in Worten und Taten.

An dem Tag, an dem das Mahnmal eingeweiht wurde und die Bundeskanzlerin von Verantwortung sprach, sprach der Innenminister Friedrich in die Mikrophone der Bundespressekonferenz, dass Deutschland vor der Zuwanderung von „Armutsflüchtlingen“ in seine Sozialsysteme geschützt werden müsse. Er wolle dafür Sorge tragen, dass die EU die Freizügigkeit für Menschen aus Bulgarien und Rumänien wieder aufhebe.
Man muss nicht „Roma“ sagen, damit alle wissen, dass Roma gemeint sind, vor denen der deutsche Sozialstaat geschützt werden müsse.

In den Tagen, als hier das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht wurde, wurden hunderte ihrer Nachkommen aus Deutschland abgeschoben.

Deutsche Politiker hatten von Anfang an die Zerstörung der Bundesrepublik Jugoslawien und die Anerkennung ihrer ethnisch konstruierten Nachfolgestaaten gefördert. Mit einem unglaublich zynischen „Nie wieder Auschwitz“ haben deutsche Bomben und deutsche „Schutztruppen“ dazu beigetragen sie zu stabilisieren. Die ersten Opfer der neuen Staaten waren die Roma, die überall vertrieben wurden.

Kriegsflüchtlinge, die nach Deutschland kamen, mussten z. T. länger als 20 Jahre mit einer „Duldung“ leben, die je nach politischer Situation für Tage, Wochen oder Monate, maximal für ein halbes Jahr verlängert wurde. Ihr Aufenthalt war auf einen Ort beschränkt, sie hatten nur eingeschränkt Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung und nahezu keinen Zugang zu Arbeit und Ausbildung.

Und als Auswärtiges Amt und Innenministerium der Meinung waren, nun sei in den ex-jugoslawischen Staaten „Normalität“ eingekehrt, sollten sie in ihre „Heimatländer“ zurückkehren, die es gar nicht gab. Ihre Heimat war die Bundesrepublik Jugoslawien gewesen. Die Situation, die die aus Deutschland Abgeschobenen in Serbien, Kroatien, Montenegro erwartet, ist bekannt und vielfach dokumentiert.

Als an dem Tag, an dem das Mahnmal eingeweiht wurde und die Kanzlerin von Verantwortung sprach, eine Gruppe junger Roma mit Schildern und Rufen an die Abgeschobenen erinnerte, wurden sie vom Zeremonienmeister zurechtgewiesen: das sei an diesem Tag kein Thema!

Die Aufnahme Serbiens, Bosniens und Mazedoniens in die Liste „sicherer Herkunftsländer“ erlaubt nun ihre Abschiebung ohne Prüfung ihres Falls – trotz bekannter Diskriminierung, Ausgrenzung und ständiger Bedrohung.
Das ist ein unerhörter Skandal!

Verantwortung wahrzunehmen, hieße im Fall der Flüchtlinge, sie so aufzunehmen, wie man in den 1990er Jahren jüdische Nachkommen der Holocaust-Opfer aus der zerfallenen Sowjetunion aufgenommen hat. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.

Wir werden uns auch weiter dafür einsetzen, dass endlich Schluss gemacht wird mit der Diskriminierung und Stigmatisierung der Sinti und Roma in Deutschland;
Wir unterstützen Initiativen zur Anerkennung ihrer Kultur, ihrer Sprache und ihrer Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe an dieser Gesellschaft, die eben auch ihre Gesellschaft ist.

Und wir unterstützen die Initiativen, die darauf zielen, dass Volksverhetzung auch Volksverhetzung genannt wird, dass sie unterbunden und die Partei, von der sie ausgeht, endlich verboten wird!

Quelle: Bundesvorstand der VVN-BdA